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Der mathematische Morgenstern

Christian Morgensterns wesentliche Leistungen liegen natürlich auf sprachlichem Gebiet; man denke an die Deklination ("der Werwolf, des Weswolfs, dem Wemwolf, den Wenwolf"), die Erweiterung unseres Wortschatzes ("Kroklokwafzi? Semememi!") und populäre Darstellung der Grammatik ("Das Perfekt und das Imperfekt tranken Sekt"). Es ließen sich unzählige weitere Beispiele anführen, und Morgensterns Einfluss auf die Entwicklung der deutschen Sprache im letzten Jahrhundert wird man zu überschätzen kaum in der Lage sein.

Doch bei aller gebotenen Ehrfurcht muss man auch davor warnen, sein Werk allzu unkritisch hinzunehmen. Wie so häufig bei mathematischen Laien gibt es nämlich manch unbedachtes Wort, das der Dichter bei näherer logischer Prüfung besser nicht geschrieben hätte. Das soll im folgenden an einigen Beispielen illustriert werden. Zuerst sei hier auf eine merkwürdige Gestalt der "Galgenlieder" hingewiesen, die in mehreren Gedichten auftaucht:

Der Zwölf-Elf hebt die linke Hand:
da schlägt es Mitternacht im Land.

Morgenstern schreibt über den Zwölf-Elf, er sei "ein sogenannter Schwarzelf oder -elb". Nähere Auskunft erhält man aus den einschlägigen Märchenbüchern. Uns soll am Zwölf-Elf seine additive Seite interessieren, die in dem Gedicht "Das Problem" geschildert wird:

Der Zwölf-Elf kam auf sein Problem
und sprach:"Ich heiße unbequem.
Als hieß ich etwa Drei-Vier
statt Sieben – Gott verzeih mir!"

Und siehe da, der Zwölf-Elf nannt sich
von jenem Tag an Dreiundzwanzig.

Wirklich köstlich. Aber mit der typischen Naivität des Nicht-Mathematikers! Warum sollte der Zwölf-Elf gerade die Addition zur Vereinfachung seines Namens wählen? Warum nicht eine der anderen Grundrechenarten oder die Potenzierung? Auch die Anwendung der Zahlentheorie auf diese Frage darf nicht unberücksichtigt bleiben. Es ginge zu weit, das alles hier ausführen zu wollen, doch möchte ich wenigstens die von mir verfasste multiplikative Version des Gedichtes vorstellen:

Der Zwölf-Elf kam auf sein Problem
und sprach:"Ich heiße unbequem.
Als hieß ich etwa Drei-Vier
statt Dutzend – Gott verzeih mir!"

Der Zwölf-Elf nannt sich daher fleißig
von da an Hundertzweiunddreißig.

Als nächstes besehen wir uns ein Gedicht mit geometrischem Inhalt, betitelt "Die zwei Parallelen":

Es gingen zwei Parallelen
ins Endlose hinaus,
zwei kerzengerade Seelen
und aus solidem Haus.

Sie wollten sich nicht schneiden
bis an ihr seliges Grab:
Das war nun einmal der beiden
geheimer Stolz und Stab.

Doch als sie zehn Lichtjahre
gewandert neben sich hin,
da wards dem einsamen Paare
nicht irdisch mehr zu Sinn.

War'n sie noch Parallelen?
Sie wusstens selber nicht,–
sie flossen nur wie zwei Seelen
zusammen durch ewiges Licht.

Das ewige Licht durchdrang sie,
da wurden sie eins in ihm;
die Ewigkeit verschlang sie
als wie zwei Seraphim.

Sofern wir einmal den metaphysischen oder theologischen Gehalt des Gedichts beiseite lassen: Mathematisch gesehen ist das nun wirklich barer Unsinn. Parallelen schneiden sich niemals, nicht früher, nicht später, und nur ausnahmsweise im Unendlichen. Zwar sind zehn Lichtjahre eine hübsche Entfernung, doch leider noch unendlich zu wenig. Wir müssen also davon ausgehen, dass die Parallelen gar nicht parallel waren, sondern etwas aufeinander zuliefen.

Haben sie das nicht bemerkt? Sind mathematische Objekte fähig zum Irrtum? Oder ist die positive Krümmung des Weltalls schuld? Ein interessantes Forschungsgebiet, doch gehen wir weiter zum nächsten Gedicht, "Die Probe":

Zu einem seltsamen Versuch
erstand ich mir ein Nadelbuch.
Und zu dem Buch ein altes zwar,
doch äußerst kühnes Dromedar.

Ein Reicher auch daneben stand,
zween Säcke Gold in jeder Hand.
Der Reiche ging alsdann herfür
und klopfte an die Himmelstür.

Drauf Petrus sprach:"Geschrieben steht,
dass ein Kamel weit eher geht
durchs Nadelöhr als du, du Heid,
durch diese Türe groß und breit!"

Ich, glaubend fest an Gottes Wort,
ermunterte das Tier sofort,
ihm zeigend hinterm Nadelöhr
ein Zuckerhörnchen als Douceur.

Und in der Tat! Das Vieh ging durch,
obzwar sich quetschend wie ein Lurch!
Der Reiche aber sah ganz stier
und sagte nichts als:"Wehe mir!"

Offensichtlich hat der Dichter hier die Gesetze der Logik missachtet, ja verkehrt! Sehen wir uns die Aussagen des Petrus einmal näher an:

A: Ein Kamel geht durchs Nadelöhr.
B: Ein Reicher kommt durch die Himmelstür.
C: A ist viel wahrscheinlicher als B.

Da die Wahrscheinlichkeit von A bei einem handelsüblichen Nadelöhr und einem ebensolchen Kamel gleich Null ist, gilt dies auch für B. Das Gleichnis sagt uns: A ist unmöglich, also ist B unmöglich. Wenn B nicht eintritt, sagt das umgekehrt über die Wahrscheinlichkeit von A nicht das geringste aus. Morgenstern leitet daraus aber (wie der weitere Verlauf zeigt) eine hohe Wahrscheinlichkeit von A ab, vermutlich aufgrund einer verqueren Auslegung der Aussage C. Wenn nun aber schon A eintritt, dann ist auch B nicht mehr ganz so unmöglich, wie es anfangs schien. Der Reiche hat also keinen Grund zum Wehklagen, sondern sollte sich vielmehr freuen. Aber Kamele und Reiche scheinen ebensowenig Sinn für Logik zu haben wie Dichter.

Man kann Morgenstern aber auch keine durchgehende mathematische Ignoranz vorwerfen. Sein Gedicht "Die drei Winkel" ist zum Beispiel eine gelungene Darstellung der Tatsache, dass die Winkelsumme im ebenen Dreieck 180 Grad beträgt:

Drei Winkel klappen ihr Dreieck
zusammen wie ein Gestell
und wandern nach Hirschmareieck
zum Widiwondelquell.

Dort fahren sie auf der Gondel
hinein in den Quellenwald
und bitten die Widiwondel
um menschliche Gestalt.

Die Wondel – ihr Dekorum
zu wahren – spricht Latein:
"Vinculis, vinculorum,
in vinculis Fleisch und Bein!"

Drauf nimmt sie die lockern Braten
und wirft sie in den Teich: –
Drei Winkeladvokaten
entsteigen ihm alsogleich.

Drei Advokaten stammen
aus dieses Weihers Schoß
Doch zählst du die drei zusammen,
so sind es zwei rechte bloß.

Wer trotzdem noch meint, ich sei zu hart mit Morgenstern ins Gericht gegangen, schließlich habe der Arme nicht Mathematik, sondern bloß Nationalökonomie studiert, den möchte ich auf folgenden treffenden Spruch des Dichters hinweisen:

Möge das als niedrig gelten,
was man nicht vermag zu schelten.

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Vernunft der reinen Kritik

"Nichts belastet eine Kritik mehr, als der Gegenstand, der kritisiert wird. Deshalb kann eine Kritik nur dann vollkommen sein, wenn sie etwas zur Diskussion stellt, das Gegenkritik und Kritik der Kritik so gut wie ausschließt, weil es sie völlig einschließt; wenn sie einen Gegenstand behandelt, der überhaupt durch sie erst antastbar geworden ist; kurz gesagt: wenn sie sich selbst zum Thema hat."

Mit diesen Worten beginnt der Essay "Vernunft der reinen Kritik" – sofern Essay der richtige Ausdruck ist, doch dazu später – und geht auf diese Weise ohne eigentliche Einleitung in medias res. Was hier so kurz und bündig dargestellt wird, mag zuerst unverständlich erscheinen, doch stößt man im weiteren Verlauf des Werkes noch auf genügend erläuternden Worte, um den Gegenstand richtig erfassen zu können. Das sei hier vorausgeschickt, denn beim Lesen der ersten beiden Absätze glaubt man eher einen verworrenen Scherz vor sich zu haben.

Bald darauf wird die Grundidee des ganzen deutlich: Bei dem Text handelt es sich um eine selbstbezügliche Kritik, die (dem Titel entsprechend) als reinste und vernünftigste Form ihrer selbst vorgestellt wird, da durch sie niemand gekränkt oder gedemütigt werden kann; es sei denn, der Autor legte es darauf an, sich selbst niederzumachen. Dieses auf den ersten Blick einleuchtende Argument wird sogleich wieder eingeschränkt, denn zugegebenermaßen wird über den Text hinaus auch das Wesen der Kritik an sich kritisiert, so dass sich manch ein Kritiker verunglimpft fühlen könnte. Im weiteren Verlauf werden die merkwürdigen Konsequenzen der selbstbezüglichen Kritik dargestellt, manchmal etwas zu breit und umständlich. Auch rutscht die Sprache temporär in die gelegentlich in Kritiken zu findende pseudo-intellektuelle, selbstgefällige, absolut redundant (um nicht zu sagen überflüssig) eloquente, fremdwortgespickte und den Leser mit zu vielen Adjektiven und zu langen Sätzen – die durch weitere Einschübe leider auch nicht lesbarer werden – völlig unnötigerweise äußerst enervierende Ausdrucksweise ab.

Es lassen sich weitere Stilmängel feststellen: So wird das Wort "Kritik" mangels geeigneter Synonyme zu häufig benutzt. Und ist es überhaupt eine Kritik? Am ehesten verwandt scheint der Text noch dem Essay, doch das vermag auch nicht völlig zu befriedigen, da ein "Essay über den Essay" ein ganz anderes, noch zu schreibendes Werk wäre. Erstaunlich ist, dass der Autor die meisten seiner stilistischen Schwächen selbst bemerkt, noch erstaunlicher also, dass er sie nicht behoben hat.

Welches sind nun die Vorbilder dieses außergewöhnlichen Texts, denn so darf man ihn sicher nennen? Der Titel scheint uns einen Hinweis auf Immanuel Kant zu geben, doch hat dieser so gut wie nichts mit dem behandelten Gegenstand zu tun. Vielmehr gehen die hauptsächlichen Anregungen auf Stanislaw Lem im besonderen (nämlich sein Buch "Vollkommene Leere" mit Rezensionen nie geschriebener Bücher) und Douglas R. Hofstadter im allgemeinen (und zwar seine Ausführungen zur Selbstbezüglichkeit in seinen Büchern, besonders "Gödel, Escher, Bach") zurück. So könnte man meinen, dass die "Vernunft der reinen Kritik" weder ein besonders originaler noch origineller Text sei, der in fremden Terrain wildere und die Lektüre nicht lohne, doch würde dies ein Missverständnis der Intentionen des Autors bedeuten. Zudem werden uns die Quellen, aus denen er geschöpft hat, ohne Umschweife genannt, so dass der Vorwurf damit ganz ausgeräumt scheint.

Ebenfalls eher verzeihlich als tadelnswert ist, dass der Autor sich mit Selbstlob bedenkt. Schließlich hat man nicht alle Tage die Gelegenheit, das eigene Werk ins rechte Licht zu setzen. Und es fehlt umgekehrt auch nicht an Selbstkritik, wobei hier am Rande zu bemerken ist, dass der Ausdruck "Selbstkritik" vielleicht als neuer Gattungsname für diese Sorte Text am geeignetsten wäre. Hat der Autor eine neue Gattung begründet? Diese Frage stellt er sich auch selbst und merkt Zweifel daran an, denn die Variationsbreite des Themas scheint ihm zu gering, um viele Nachahmer zu finden.

Das ist schade, denn die "Selbstkritik" birgt einige bedeutende Vorteile in sich. Etwa den, dass der Leser, nachdem er sie gelesen hat, auch schon ihre Kritik gelesen hat und nicht erst in der Zeitung nachschlagen muss. Weiterhin ist die Kritik nicht nur ihre Meta-Kritik (also Kritik der Kritik), sondern auch ihre Meta-Meta-Kritik (also Kritik der Kritik der Kritik) und Meta-Meta-Meta-Kritik etc. ad infinitum. Dieser Gedanke gibt dem ganzen eine gewissermaßen unbestimmte Note, eine Verlängerung ins Unendliche, einen Hauch von Poesie.

Resümee: Ein durchaus beachtenswertes Werk, wenn man von einigen Schwächen absieht. Im übrigen scheint der Autor nicht anzunehmen, mit diesem Text das letzte Wort zum Thema geschrieben zu haben. Wie anders ließe sich der offene Schluss erklären, bei dem der letzte Satz mit drei Punkten aufhört, was die Nichtvollendung andeutet, und tatsächlich...

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Die Jordansche Normalform

Bürgerliches Trauerspiel in zwei Akten von Camille Jordan, Schauplatz: der ⁿ, Zeit: zweite Hälfte des 19. Jhds.

1.Akt: Höchstes Lebensziel der beiden Endomorphismen F und G ist es, eine Darstellung als Diagonalmatrix zu erlangen. Dazu müssen sich beide jedoch geeignete Basen des ⁿ suchen. Nach vielen kurzen Affären glauben beide, in den Basen D und E die erhofften gefunden zu haben. Doch das erweist sich als trügerisch: Durch D gewinnt F zwar eine Darstellung als Tridiagonalmatrix, doch das reicht ihm nicht, und nachdem selbst das Austauschen einzelner Vektoren von D nicht den gewünschten Erfolg bringt, weist F sie nach einiger Zeit kalt von sich. G dagegen ist seiner Basis E zwar herzlich zugetan, doch diese betrügt ihn mit dem Endomorphismus H und bringt diesen statt G auf Diagonalgestalt. Ein tückisches Lemma berichtet G, dass sein charakterisches Polynom nicht in Linearfaktoren zerfalle, und dass es deshalb für ihn nicht einmal eine Darstellung als obere Dreiecksmatrix geben könne. Von Verzweiflung getrieben nimmt sich G das Leben. Zu spät kommt die Botschaft des Fundamentalsatzes der Algebra, dass G noch eine Chance gehabt hätte, wenn er in den ⁿ ausgewandert wäre. F ist durch den sinnlosen Tod des Freundes zwar tief erschüttert, lässt aber von seinen ehrgeizigen Zielen nicht ab.

2.Akt: F hat eine Basis B gefunden, die ihn auf Jordansche Normalform gebracht hat. Anfangs ist er darüber voller Freude und glaubt bereits, sich in den höchsten Kreisen bewegen zu dürfen. Doch bald bemerkt er, wie die Endomorphismen in Diagonalgestalt über die Einsen auf seiner Nebendiagonale zu spötteln beginnen, erst hinter seinem Rücken, dann in offenem Hohn. Zutiefst gekränkt macht er seine Basis B dafür verantwortlich und misshandelt sie, indem er ihre Vektoren mit kleinen Skalaren zusammenstaucht. Er will nicht wahrhaben, dass er dadurch nur seiner eigenen Form schadet und wird immer brutaler. Eines Nachts erscheinen ihm im Traum seine Eigenräume und erschrocken muss er feststellen, dass ihre Dimensionen kleiner sind, als er geglaubt hatte: kleiner als die Vielfachheit der Eigenwerte als Nullstellen seines charakteristischen Polynoms. Damit ist für ihn besiegelt, dass er niemals eine Darstellung als Diagonalmatrix erreichen kann. In tiefer Reue will er B um Verzeihung bitten, doch es ist zu spät: Um seinen Anschlägen zu entgehen, hat sie all ihre Vektoren mit der Null multipliziert. F folgt ihr nach, indem er sich vom ⁿ in den Vektorraum {0} stürzt.